Ausmaß bleibt unklar – Viele Impfnebenwirkungen nicht gemeldet? Ministerium verschleppte wichtige Datenerfassung

xperten gehen davon aus, dass viele mögliche Nebenwirkungen der Covid-19-Impfungen nicht gemeldet werden. Dass die Behörden über kein klares Bild verfügen, liegt nicht nur am komplexen Meldeverfahren. Es wurden offenbar wichtige Daten nicht zusammengeführt.

Die meisten Erwachsenen und Jugendlichen in Deutschland sind mittlerweile gegen Covid-19 geimpft, viele auch geboostert. Dass die Impfung in seltenen Fällen neben den üblichen, harmlosen Impfreaktionen auch gravierende Nebenwirkungen haben kann, war lange bekannt – vor allem die Myokarditis (Herzmuskelentzündung) bei jüngeren Männern und Jugendlichen. Laut Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) liegt die Melderate von vermuteten Impfnebenwirkungen bei 1,64 Meldungen pro 1000 Impfdosen, für schwerwiegende Reaktionen 0,20 Meldungen pro 1000 Impfdosen.

Corona-Impfung Nebenwirkung: Experten sehen zu geringe Melderate

Das Problem: Die Melderate bezieht logischerweise nur solche Fälle mit ein, die auch erkannt und gemeldet wurden. Vor dem Hintergrund der unmittelbar bevorstehenden Impfpflicht-Abstimmung im Bundestag stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung einen ausreichend gesicherten Überblick über das Ausmaß der Nebenwirkungen hat. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass dies nicht der Fall ist.

So berichteten zuletzt der MDR und das ARD-Magazin Plusminus darüber, dass Impfschäden nach den gegenwärtigen Erkenntnissen zwar selten seien, die Betroffenen aber Probleme hätten, von Ärzten überhaupt ernst genommen zu werden . Auf der Webseite des Plusminus-Beitrages finden sich aktuell 69 Seiten an User-Kommentaren, die von ähnlichen Erlebnissen berichten.

Ärzte wünschen sich „niederschwelliges Meldesystem“

Auch FOCUS Online hatte im März von Ärzten berichtet, die eine vergleichsweise hohe Zahl von Nebenwirkungen registrierten , darunter neurologische Probleme, und diese auch ans PEI meldeten. Sie berichteten auch davon, dass die Meldung sehr zeitaufwändig sei und deshalb vermutlich bei vielen Ärzten unter den Tisch fallen könnte. Besser sei ein „niederschwelliges Meldesystem“.

Eine wahrscheinliche Untererfassung von Nebenwirkungen bestätigt auch Harald Matthes, ärztlicher Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe und Stiftungsprofessor am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Berlin. Er geht auf Basis einer Studie von einer Untererfassung der Fälle von mindestens 70 Prozent aus . Schwere und anhaltende Nebenwirkungen seien dennoch selten.

70 Prozent oder mehr aller Fälle nicht erfasst?

Selbst wenn nicht alle Fälle schwerwiegend sind und zu dauerhaften Schäden führen, so bedeuten sie doch in einigen Fällen zumindest, dass Betroffene für eine gewisse Zeit krankgeschrieben sind. Damit ist dann bei jeder neuen Impf- und Booster-Kampagne zu rechnen.

Problematisch wird es, wenn Warnsignale auf die wahrscheinliche Untererfassung nicht einmal untersucht werden. So wurde der Chef der BKK Provita, Andreas Schöfbeck, entlassen, nachdem er den Datenbestand aller BKK-Krankenkassen analysiert hatte und in einem Brief ans Paul-Ehrlich-Institut (PEI) davor warnte, dass es eine über den Erwartungen liegende Anzahl gemeldeter und teils auch behandlungsbedürftiger Nebenwirkungen gebe. Das Argument des BKK-Dachverbands: Schöfbeck habe die Daten falsch interpretiert und auch nicht im Auftrag der BKK gehandelt.Eine Auswertung der BKK ProVita für 10,9 Millionen Versicherter der BKK-Krankenkassen sieht eine vergleichsweise hohe Zahl von Impfnebenwirkungen bei Covid19-ImpfstoffenBKK ProVita Eine Auswertung der BKK ProVita für 10,9 Millionen Versicherter der BKK-Krankenkassen sieht eine vergleichsweise hohe Zahl von Impfnebenwirkungen bei Covid19-Impfstoffen

BKK-Vorstand warnte – und wurde entlassen

FOCUS Online hatte bereits kurz nach dem Brief mit Schöfbeck Kontakt aufgenommen. Er sei sich bewusst, dass der zeitliche Druck und die kurze Antwortfrist, die er mit seinem Brief aufgebaut habe, im Nachhinein gesehen ein Fehler gewesen sei, so der nun geschasste Kassen-Chef. Inhaltlich blieb er jedoch bei seinen Aussagen. Die jüngsten Medienberichte zu Nebenwirkungen zeigen, dass Schöfbecks Warnung zumindest unvoreingenommen hätte geprüft werden müssen.

„Nicht vorsichtig genug formuliert“

Auch Harald Matthes von der Charité kritisiert den Umgang mit Schöfbeck. Im Interview mit FOCUS Online sagte er: „Wenn man Andreas Schöfbeck etwas vorwerfen kann, dann vielleicht, dass er nicht vorsichtig genug formuliert hat. Er hätte sagen sollen, es gibt hier einen Hinweis, die Kausalität ist aber noch zu prüfen. Es war nicht ganz klar, ob er sich politisch geäußert hat, oder ob er einfach seiner Sorgfaltspflicht nachkommen und sagen wollte: Hier ist ein Signal, das bitte genauer untersucht werden muss. Diese kleine Differenzierung hat ihn den Job gekostet.

Stattdessen wurde der BKK-Chef in ungewöhnlich aggressiver Form verbal angegangen, unter anderem von Dirk Heinrich, dem Bundesvorsitzenden des Verbandes der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte (Virchowbund). Heinrich warf Schöfbeck „peinliches Unwissen oder Täuschungsabsicht“ vor und bezeichnete ihn indirekt als der Querdenker-Szene zugehörig.

Nicht jeder Verdachtsfall bestätigt sich – muss aber trotzdem gemeldet werden

Zwar ist Heinrichs Aussage richtig, dass nicht alle Verdachtsfälle auch nachgewiesene Impfnebenwirkungen sind und dass bei den Meldungen nicht nur schwerwiegende Komplikationen, sondern auch eher harmlose Impfreaktionen mit erfasst wurden. Doch müsste bei neuartigen Impfstoffen wie den mRNA-Präparaten die Hemmschwelle, auch unspezifische Nebenwirkungen zu melden, um ein Underreporting auszuschließen, schon aus Verpflichtung der Ärzte ihren Patienten gegenüber ja eher niedrig sein.

Das zeigt das berühmte Pandemrix-Beispiel. In dem vom Robert-Koch-Institut und der Bundesgesundheitszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) herausgegebenen „Impfbuch für alle“, das zur Corona-Impfung in deutschen Apotheken verteilt wird, findet sich zum Thema Schweinegrippe-Impfung folgender Eintrag: „Insgesamt waren gegen dieses Grippevirus fünf Impfstoffe zugelassen worden. Bei einem davon, Pandemrix, traten später Fälle von Narkolepsie auf – nämlich bei je einem von 181.000 geimpften Erwachsenen sowie bei je einem von 18.400 geimpften Kindern. Die Betroffenen leiden unter unkontrollierbaren Einschlafanfällen und häufigen Stürzen.“

Langzeitwirkungen selten, aber möglich

Es handelte sich laut „Ärzteblatt“ bei der Narkolepsie um eine Autoimmunerkrankung, die gegen bestimmte Rezeptoren im Gehirn gerichtet war. Verantwortlich dafür seien Antikörper im Blut gewesen. Entscheidend ist hier der Zeitablauf: Die ersten Komplikationen gab es 2010, insgesamt wurden aber bis 2015 rund 1300 Fälle bekannt, so das „Ärzteblatt“.

Spätere Erkrankungen erklärten Wissenschaftler in einer Hypothese damit, dass die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, die normalerweise Antikörper nicht durchlässt, bei einer weiteren Erkrankung oder schweren Entzündung kurzzeitig durchlässig geworden sei. “Dieses Ereignis müsste nicht mit der Impfung zusammenfallen, da die Antikörper ja lebenslang im Blut vorhanden sind. Dies würde erklären, warum Geimpfte auch Jahre nach der Impfung noch an einer Narkolepsie erkranken können”, so das Fachblatt weiter.

Wie Nebenwirkungen erfasst werden

Wie also kann man bei den Covid-19-Impfungen, die immerhin nach einem neuartigen Wirkprinzip arbeiten, sicherstellen, dass auch seltene Nebenwirkungen und mögliche Langzeitwirkungen nicht übersehen werden? Tatsächlich ist es in Deutschland die Aufgabe des Paul-Ehrlich-Instituts, von sich aus alles zur Erfassung aller Nebenwirkungen beizutragen. Es muss gemäß Arzneitmittelgesetz (AMG) alle geeigneten Maßnahmen treffen, um Verdachtsfälle über gemeldete Nebenwirkungen zu identifizieren. Es genügt dabei, wenn Anhaltspunkte, Hinweise oder Schlüsse zu der Annahme führen, dass das Arzneimittel an dem Auftreten der Nebenwirkung beteiligt ist; ein belegter kausaler Zusammenhang muss im Sinne des Gesetzes also gar nicht vorliegen.

Das PEI äußert sich gegenüber FOCUS Online zu den erwähnten BKK-Daten folgendermaßen: „Aus Sicht des Paul-Ehrlich-Instituts sind allgemeine ICD-Codes zu Impfnebenwirkungen, wie sie beispielsweise bei der Abfrage der Krankenkasse BKK ProVita verwendet wurden (T88.0, T88.1, Y59.9 sowie U12.9) wenig geeignet, das Nebenwirkungsprofil der einzelnen Impfstoffe zu untersuchen. So können keine robusten Aussagen über bestimmte, impfstoffspezifische Nebenwirkungen gemacht werden (z.B. Myokarditis nach mRNA-Impfstoffen, Immunthrombozytopenie nach adenoviralen Vektorimpfstoffen). Auch kann nicht sicher zwischen schwerwiegenden und kurzfristigen, vorübergehenden unerwünschten Reaktionen unterschieden werden. Aus diesem Grunde favorisiert das Paul-Ehrlich-Institut eine detaillierte Auswertung von Patientendaten, um die Sicherheit der COVID-19-Impfstoffe kontinuierlich weiter zu untersuchen. Dies soll in anonymisierter Form erfolgen, um dem Datenschutz gerecht zu werden.“

„Bisher stehen Daten der Krankenkassen nicht zur Verfügung“

Dann aber spielt das PEI den Ball quasi an die Krankenkassen zurück: „Eine entsprechende Sicherheitsstudie für die COVID-19-Impfstoffe auf Basis anonymisierter Krankenkassendaten wurde bereits im Jahr 2020 vom Paul-Ehrlich- Institut geplant und eine Finanzierung durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zugesagt. Das Paul-Ehrlich-Institut hat die Daten angefragt. Bislang stehen diese Daten von den Krankenkassen dem Paul-Ehrlich-Institut noch nicht zur Verfügung“.

Das PEI wusste also offenbar sehr früh, dass man mit den vorhandenen Daten das Nebenwirkungs-Spektrum der Impfstoffe nicht umfassend würde beurteilen können – die wichtige Zusammenführung der Daten wurde aber verschleppt: Es gibt, im Gegensatz zu Schweden beispielsweise, in Deutschland kein Impfregister.

Verantwortung wird hin und her gereicht

Die Krankenkassen weisen ebenfalls auf das Datenproblem hin. So sagte die AOK im März auf Anfrage von FOCUS Online: „ Die wissenschaftlichen Institute der gesetzlichen Krankenkassen haben sich daher schon zu Beginn der Impfkampagne gemeinsam gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium dafür stark gemacht, die Daten zu den Impfungen an die Krankenkassen zu übermitteln, damit diese das Paul-Ehrlich-Institut bei der Bewertung der Sicherheit der Impfung unterstützen können.“ (…) Auch wenn den Krankenkassen die Informationen über durchgeführte Impfungen vorliegen würden, könnte man damit nur die Häufigkeit schwerer Nebenwirkungen (Sinusvenenthrombose, Myokarditis, Perikarditis) im Vergleich zu geeigneten Kontrollgruppen bewerten. Denn nur bei diesen schweren Nebenwirkungen ist zu erwarten, dass sie auch differenziert in den Abrechnungsdaten dokumentiert werden.“ Etwas salopp könnte man sagen: Es handelt sich um einen klassischen Fall von Verantwortungs-Ping-Pong.

PEI liefert Daten für mehrere Studien

Trotz der fehlenden Krankenkassen-Daten arbeitet das PEI nach eigenen Angaben aber an mehreren, derzeit noch laufenden Studien zur Impfstoff-Sicherheit mit oder führt diese durch, zum Beispiel:

  • Die „SafeVac App 2.0“-Studie, die sich mit der Langzeitsicherheit der Impfstoffe befasst. „Die aktuelle Teilnehmerzahl beträgt mehr als 730.000 geimpfte Personen, der Beobachtungszeitraum umfasst 12 Monate“, so das PEI.
  • Eine Zusammenarbeit mit dem Register für Kinder und Jugendliche mit Verdacht auf Myokarditis (Mykke) – hierzu gibt es laut der Behörde eine Untersuchung einschließlich Langzeitverlauf von Verdachtsfällen einer Myokarditis nach COVID-19-Impfung bei Kindern und Jugendlichen.
  • Eine Untersuchung zur Sicherheit der COVID-19-Impfstoffe in der Schwangerschaft – hier arbeite man mit der Berliner Charité zusammen.

Nebenwirkungen selbst melden ebenfalls möglich

Schließlich können Geimpfte oder deren Angehörige beobachtete Nebenwirkungen auch selbst melden, wozu bereits seit einigen Jahren – also auch für andere Impfungen und Medikamente schon vor Beginn der Corona-Pandemie – ein eigenes Portal eingerichtet wurde (www.nebenwirkungen.bund.de). Bei der Meldung muss man unter anderem die Chargen-Nummer des Impftstoffs angeben, die man im Impfzertifikat (ausgedruckt oder digital) findet.

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Nicht weniger kompliziert als die mögliche Untererfassung von Nebenwirkungen ist die Frage, wie Geimpfte im Schadensfall überhaupt belegen können, dass die Impfung auch die Ursache für ihre Komplikationen war. Schließlich kommen gerade bei Herzproblemen oder Gefäßerkrankungen alle möglichen Ursachen in Betracht.

Wie beweist man, ob Impfung wirklich Ursache für einen Schaden war?

FOCUS Online-Rechtsexperte Marco Rogert von der Kanzlei Rogert & Ulbrich in Köln geht zwar davon aus, dass in diesem Fall die sogenannte „Beweislasterleichterung“ greift: „Demnach wird vermutet, dass ein Arzneimittel eine Erkrankung verursacht hat, wenn es im Einzelfall dazu „geeignet“ ist. Relevant sind dabei etwa die Zusammensetzung des Medikaments, seine Dosierung, der zeitliche Zusammenhang zu der Erkrankung und der gesundheitliche Zustand des Patienten. Auch das Schadensbild und der gesundheitliche Zustand des Geschädigten im Zeitpunkt der Anwendung sowie alle sonstigen Gegebenheiten, die im Einzelfall für oder gegen die Schadensverursachung sprechen, sind dabei zu berücksichtigen“, so Rogert. Allerdings reicht das nicht aus: „Der pharmazeutische Unternehmer die Kausalitätsvermutung wieder aushebeln, wenn er nur eine mögliche andere Schadensursache benennt. Die Anwendung eines weiteren Arzneimittels, das den Schaden verursacht haben könnte, kann hingegen nicht herangezogen werden, um die Kausalitätsvermutung zu entkräften“, so Rogert weiter.

Gerichte müssen im Einzelfall entscheiden

Vorteilhaft für Geschädigte sei ein Auskunftsanspruch gegenüber dem Hersteller der Impfstoffe über die ihm bekannten Nebenwirkungen und Wechselwirkungen. „Nach der Rechtsprechung reicht ein unbestimmter Verdacht nicht aus. Allerdings muss der Geschädigte im Verfahren um den Auskunftsanspruch auch nicht den Beweis der Kausalität führen. Dem Richter obliegt insoweit eine Plausibilitätsprüfung, wobei die ernsthafte Möglichkeit eines Zusammenhangs für den Auskunftsanspruch ausreicht“, so Rogert.

Befremdlich wirkt derweil der Umgang des Bundesgesundheitsministers selbst mit dem Thema. Karl Lauterbach hatte mehrfach betont, die Impfungen seien „quasi nebenwirkungsfrei“. Da selbst sein eigenes Ministerium eine mangelnde Datenlage dazu einräumen muss, ist diese pauschale Aussage kaum haltbar – und dürfte bei den Betroffenen nicht gerade gut ankommen.

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Quelle: https://www.focus.de/gesundheit/ausmass-bleibt-unklar-viele-impfnebenwirkungen-nicht-gemeldet-ministerium-verschleppte-wichtige-datenerfassung_id_79102312.html