Offenbart die Pandemie Schwächen im Verfahren des einstweiligen Schutzes gegen Grundrechtseingriffe? Oliver Lepsius ruft das Bundesverfassungsgericht zur Räson.
Das Bundesverfassungsgericht ist ein zentraler institutioneller Anker, wenn es darum geht, staatliche Organe auch in einer Krise wirksam auf das Verfassungsrecht zu verpflichten. Eine politische Krise wird so lange nicht zur Verfassungskrise, wie rechtliche Institutionen funktionstüchtig bleiben, sodass die Krisenbewältigung in den Bahnen des Rechts gehalten werden kann. Hierbei kommt es auch auf den Faktor Zeit an, denn Rechtsschutz stabilisiert nur, wenn er auch rechtzeitig erfolgt. Paragraph 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes weist daher dem Gericht die Kompetenz zu, einstweilige Anordnungen im Eilverfahren zu erlassen. Es macht hiervon nur selten Gebrauch. Soeben hat Oliver Lepsius die Praxis des Gerichts in einem umfangreichen Aufsatz in der Zeitschrift „Der Staat“ (Jg. 60, Heft 4 / Duncker & Humblot) einer bemerkenswerten Analyse und Kritik unterzogen. Anlass bot ihm die Ablehnung einer einstweiligen Anordnung gegen die Ausgangsbeschränkungen im Zuge der „Bundesnotbremse“ (Beschluss vom 5. Mai 2021, 1 BvR 781/21).
Das Bundesverfassungsgericht prüft traditionell im Rahmen einstweiliger Anordnungen – anders als Verwaltungsgerichte – gerade nicht die Erfolgsaussichten von (zulässigen) Verfassungsbeschwerden, sondern nimmt eine Folgenabwägung vor. Gegenübergestellt werden die Folgen, wenn eine Anordnung unterbliebe, sich aber später die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme herausstellt, und die Folgen, wenn eine im Ergebnis verfassungskonforme Maßnahme einstweilen ausgesetzt wird. Geht es um die Aussetzung eines parlamentarischen Gesetzes, legt das Gericht mit Recht strenge Maßstäbe an, um weitreichende Interventionen in den Prozess parlamentarisch-demokratischer Willensbildung zu vermeiden. Lepsius kritisiert diese Maßstabsbildung, weil sie den Fokus auf tatsächliche Folgen lege, die Determinationskraft des materiellen Rechts hingegen verkümmern lasse. Nun ist diese Zurückhaltung ihrerseits gerade Folge gut begründeter materieller Verfassungsmaßstäbe funktionaler Gewaltengliederung.
Bei der Ausgangssperre löste der rechtstechnische Automatismus der Bundesnotbremse allerdings sanktionsbewehrte Verbote aus, ohne einen gerichtlich überprüfbaren Verwaltungsakt dazwischenzuschalten. Rechtsschutz ist dann grundsätzlich nur von der Verfassungsgerichtsbarkeit zu erlangen. Das erschwert zwar in der Tat – wie Lepsius beklagt – eine passgenaue Balancierung der Verhältnismäßigkeit. Solche Automatismen sind jedoch ebenfalls ubiquitär, wenn man nur an das Ordnungswidrigkeiten- und das Strafrecht denkt. Ein Grund, an selbstvollziehende Gesetze andere Maßstäbe anzulegen, war das bislang nie.
Die Wehleidigkeit des Wohlstandsbürgers
Lepsius stellt letztlich die Grundsatzfrage nach der Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der Krise. Dieses sei nicht irgendein Gericht, sondern Verfassungsorgan, das dieser selbständigen Rolle auch gerecht werden müsse. Dazu gehöre es „gerade in Zeiten, in denen sich Krisenpolitik fundamental auf das Verfassungsrecht auswirkt, eine verfassungsrechtliche Grundorientierung zu geben, gerade weil die Grundrechte den ungeteilten Grundkonsens verkörpern“. Durchaus ähnlich sah Hans Hugo Klein, der in Heidelberg habilitierte Staatsrechtslehrer, schon 1968 im Gericht, dessen Zweitem Senat er von 1983 bis 1996 angehören sollte, einen realitätsbezogenen Garanten einer „Staatsräson“ mit Interventionsmacht gerade in der Krise.
Ist das eine adäquate Rollenbeschreibung? Just in volatilen, von Tatsachenbeurteilungen abhängigen Krisenlagen ist ein Verfassungsgericht institutionell besonders schlecht in der Lage, abschließende Bewertungen vorzunehmen, weil es probabilistische Risikobeurteilungen offenkundig nicht selbst und schon gar nicht besser treffen kann als der repräsentativ-demokratische Willensbildungsverbund von Regierung, Parlament und wissensgenerierenden Fachbehörden.
Freiheit ist kein Abstraktum, entscheidend bleibt immer, welche Freiheit konkret beschränkt wird. Geht es hier wirklich um die „schärfsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik“? Neben 30 000 Telefonüberwachungen pro Jahr, Sicherungsverwahrung, Sorgerechtsentzug, Abschiebung nach Afghanistan, EU-Haftbefehl und Auslieferung nach Russland wirkt diese von vielen gepflegte Floskel doch ein wenig von der Wehleidigkeit des Wohlstandsbürgers durchtränkt. Und während man hier den Verlust der Shoppingmall, des nächtlichen Flanierens und des Futterns beim Italiener betrauert, sind während der Pandemie noch 3000 Flüchtende infolge des Grundrechtseingriffs-Regimes an der europäischen Außengrenze erbärmlich im Mittelmeer ersoffen.
Letztlich hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden gegen die Bundesnotbremse dann auch in der Hauptsache zurückgewiesen, weil die Maßnahme gerechtfertigt war (Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21). Einer teilweise schrillen politischen Krisenrhetorik sowie der verbreiteten Verfassungsromantik rebellionssehnsüchtiger Gefühlsjuristen hat es besonnen widerstanden. Das Gericht hat die Krisen-Resilienz der Verfassung gerade dadurch gestärkt, dass es keine exzeptionelle Krisen-Verfassungsrechtsdogmatik gebildet hat, sondern bei gut etablierten Maßstäben des Normalzustands geblieben ist.
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Quelle: https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/oliver-lepsius-kritisiert-das-bundesverfassungsgericht-17840273.html